Der Paketlieferwagen hielt an und ich lief zum Beifahrerfenster, während mein Freund sicherheitshalber schonmal das Kennzeichen und den Typ des Wagens fotografierte. Man kann ja nicht vorsichtig genug sein. Wir beratschlagten kurz, ob wir mit ins Zentrum fahren und unseren ursprünglichen Plan, in den Norden zu trampen, aufgeben sollten. Aber in unserem Zustand brauchte es keine große Überzeugungsarbeit und wir waren beide froh, wenigstens endlich weg von dieser Straße zu kommen. Mit zwei überdimensional großen, unförmigen Backpacks, an denen noch Isomatten, Schlafsäcke und ein Zelt baumelten war es gar nicht so einfach, in die Fahrerkabine des Lieferwagens zu klettern. Mein Freund wurde unter seinem Backpack regelrecht begraben und ich habe mich gefragt, ob er noch Luft kriegt. Unser Fahrer war jung und echt lieb. Und ich habe mal wieder meine fantastischen Smalltalkfähigkeiten unter Beweis gestellt und ihn gefragt, ob er Pakete ausliefert🤦🏼♀️. Guten Morgen Captain Obvious! Aber mein Freund konnte unter seinem dicken Rucksack kaum reden.
Unser Fahrer war unser Held des Tages. Er fuhr uns extra bis zum Bahnhof in Växjo. Dort purzelten wir wieder mit unserem Gepäck aus der Beifahrertür. Und es war nicht das erste Mal auf dieser bislang sehr kurzen Reise, dass wir uns fragten, was wir hier eigentlich machten und wessen bescheuerte Idee das war...
Ich konnte in diesem Moment ganz genau nachempfinden, wie sich die Esel in Griechenland fühlen, die Touristen und Gepäck in der gleißenden Sonne tausende von Treppenstufen hochschleppen müssen.
Hatten wir unseren ganzen Hausstand dabei?!
Wir sackten auf den Boden und schleppten uns rüber in die Bahnhofshalle, in der Hoffnung, dass diese klimatisiert war. War sie nicht.
Wir waren echt perfekt vorbereitet auf das Abenteuer, das ich mir in den Kopf gesetzt hatte!!
Ich sah mich aus der dritten Person völlig ermattet dort auf diesem Stuhl in der Bahnhofshalle hängen. Keine 10 km von dem Campingplatz entfernt, an dem wir heute morgen die Köpfe aus dem Zelt streckten.
Wir verprassten 10 Kronen, damit mein Freund sich im Waschraum eine Abkühlung verschaffen konnte. Ich war selbst dafür zu fertig. Aber vielleicht half das ja, mal ein wenig klarer denken zu können. Busse fuhren nach Jönköping nicht. Das hatten wir bereits herausgefunden. Eine Dreiviertelstunde verging, in der wir einfach nur da auf unseren Stühlen hingen. Als ich mich irgendwann mal löste, um einen halbherzigen Blick auf die Anzeigetafel zu werfen, stellte ich natürlich fest, dass der nächste Zug nach Jönköping in 6 Minuten fuhr. Das schafften wir doch nie!
Oder doch?
2 Minuten vergingen bereits in denen ich überlegte, wie es jetzt weitergehen sollte.
Ich versuchte, so schnell wie möglich über mein Handy zwei Fahrkarten zu kaufen. Der Bahnhof war nicht groß, aber wir mussten uns trotzdem erst orientieren. Verdammt! Natürlich fuhr der Zug von dem am weitesten entfernten Gleis und wir hatten noch nicht geblickt, wie wir überhaupt da rüberkamen. Unser Verstand arbeitete aufgrund der Hitze und Erschöpfung so verdammt langsam!
Und wir konnten unsere Rucksäcke nicht alleine aufsetzen. Als wir das geschafft hatten und nach vorne aus dem Bahnhofsgebäude stürmten, sahen wir den Zug am anderen des Bahnhofes losdampfen.
Aber vielleicht dampfte es auch nur in meinem Kopf. Ich war wirklich nicht mehr bei Sinnen. Wer schonmal im Strandurlaub zu lange in der Sonne gelegen hat, weiß wie anstrengend das für den Körper ist.
Mein Freund hatte schon mehrfach darum gebeten, im Bahnhofskiosk irgendwas mit Zucker zu kaufen. Nicht, dass er meine Erlaubnis bräuchte, aber er verfügte weder über eine Kreditkarte noch über schwedische Kronen in bar. Damit war ich für die Zeit der Reise die Herrin über das Geld, musste aber natürlich auch alles bezahlen.
Wir holten Eis und eine Tüte Weingummis.
Ich versuchte, mich wieder zu konzentrieren. Der nächste Zug fuhr in einer Stunde. Oder anderthalb. Ich weiß nicht mehr genau. Wir buchten diesen Zug, aßen unser Eis und die ganze Tüte Weingummis und langsam wurde es besser.
Es war bereits fast 18 Uhr und wir hockten immernoch in Växjö. Egal, was, egal wohin, egal wie weit. Wir wollten einfach nur noch heute aus dieser Stadt rauskommen!
Ich glaube, im Zug war es immernoch nicht klimatisiert und als ich nach ca. dreivierteln der Fahrtzeit herausfand, dass es im Nebenabteil deutlich kühler war, hatten wir auch keine Energie und Lust mehr, noch das Abteil zu wechseln. Wahrscheinlich passten wir mit den Backpacks sowieso nicht durch die schmale Tür.
Es war halb neun als wir in Jönköping ankamen.
Der Tag war bisher echt für die Tonne gewesen. Aber immerhin standen wir nicht mehr an der Autobahnauffahrt in Växjö. Als ob das alles noch nicht reichte, war der nächste Campingplatz in Jönköping 3,5 km vom Hauptbahnhof entfernt. Wir versuchten wieder zu trampen, aber als es nicht auf Anhieb klappte, hatten wir auch keine weitere Energie mehr am Straßenrand zu stehen und wechselten zur Strandpromenade. Dann gingen wir den Weg eben zu Fuß! Paaah! War doch kein Problem!
Jönköping liegt übrigens an der Südspitze das Vätternsees im nördlicheren Teil von Südschweden.
Der See war groß, schlug sogar Wellen und war wunderschön. Hinter den Ufern sah man die Stadt auf den Hügeln thronen. Und die Sonne ging unter und tauchte die gesamte Szenerie in ein Meer aus Rot und Gold. Ich hatte das Gefühl, die Zeit blieb stehen. Und wir machten eine Erfahrung, die wir noch häufiger auf unserer Reise machen würden: immer wenn etwas schief ging, wurden wir im Nachhinein dafür entschädigt.
Dieser Moment war magisch. Und ich fühlte mich, wie ein Teil von etwas ganz Besonderem.
Vor uns lag ein kilometerlanger Sandstand, direkt am Ufer des Vätternsees. Dies war kein See. Die Wellen schlugen sanft an den Strand. Es war warm wie in einer lauen Sommernacht in Südeuropa und wir waren immernoch überhitzt. Wir zögerten nicht lange, gingen an der erstmöglichen, guten Stelle an den Strand, legten die Backpacks in den Sand unter einen Baum und stürzten uns ins Wasser. Ich kann diesen Moment nicht mit Worten beschreiben. Für mich persönlich war es einer der schönsten Momente unserer Reise. Unvergesslich. Romantisch. Es war der besonderste Moment. Das Wasser fiel flach ab und wir mussten weit reinlaufen, um überhaupt hüfttief im Wasser zu stehen. Es war spät und trotzdem saßen überall am Strand noch Menschen. Aber mit Abstand zu uns. Ich hatte etwas wie einen Schleier dazwischen gelegt. Die Leute waren fern. Dieser Moment war unserer.
Es war kein bisschen wie Schweden. Wir standen Arm in Arm im kühlen Nass. Wir konnten nicht oft genug untertauchen, um die ganze Hitze aus uns rauszulassen. Das Wasser war glasklar und ich konnte meine Füße sehen. Die Sonne versank hinter den Hügeln und wir fühlten uns wie an der Adria.
Später aßen wir am Strand Kichererbsen und den Rest der Pilze. Uääh...
Es wurde immer später und wir mussten immernoch zum Campingplatz laufen. Im Nachhinein frage ich mich, warum wir nicht einfach den Bus genommen haben... Aber wie schon gesagt, unsere Köpfe arbeiteten schlecht. Die restlichen 2,5 km waren eine Qual. Jeder einzelne Schritt war extrem anstrengend und ich konnte wirklich nicht mehr. Der Strand hörte und nicht auf. Und am Ende mussten wir natürlich noch den Hügel hoch.
Als wir nach einer gefühlten Ewigkeit endlich, endlich am Campingplatz ankamen, fielen wir beide nur noch wie die Walfische vorwärts platt auf den Boden. Begraben unter unseren Rucksäcken.
Wisst ihr was?
Wir durften unser Zelt erstmal noch aufbauen. Hurra! Ob wir dafür noch Energie hatten? Na klar! War doch gar kein anstrengender Tag gewesen. Und ich wurde natürlich erstmal noch von Ameisen gebissen. Wie können solche kleinen Viecher solche Schmerzen verursachen? 🤯